03.02.2016 Was ich lese
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Als ich im Oktober die neue alte Wagner’sche Buchhandlung in Innsbruck betrat, um mal mit eigenen Augen zu sehen, was die Gebrüder Renk aus der ältesten westösterreichischen Buchhandlung gemacht haben, nachdem sie diese von Thalia abgekauft hatten (apropos: ja, tatsächlich, kleiner Inhaber kauft Thalia-Filiale, whoop-whoop!), da hatte ich zu keiner Sekunde gedacht, dass dieser Besuch mein Leben verändern würde. Buchhändler Robert Renk nämlich überredete mich zu einem Buch, das er selbst auch noch lesen wollte, weil es sich so spanned-lustig-skurril anhörte: Lenins Küsse von Yan Lianke.
Vom Autor hatte ich vorher noch nie gehört, er war auch nicht in der offiziellen chinesischen Delegation auf der Frankfurter Buchmesse vor ein paar Jahren vertreten, was aber (wie ich mittlerweile weiß) daran liegt, dass er ein Genie ist, der auch vor Kritik am Chinesischen System nicht zurückscheut. Klar, dass die Chinesen so einen nicht ausreisen lassen.
Und das ist für uns eine Katastrophe! Denn Yan Lianke ist das größte Genie der Chinesischen Literatur, und definitiv einer der besten lebenden Schriftsteller unserer Zeit. Dass Mo Yan 2012 den Nobelpreis für Literatur bekommen hat, muss ich nach der Lektüre von Yan Lianke als einen Skandal, eine Schande, eine Frechheit, eine Katastrophe werten. Auch wenn ich kein Chinesisch kann, sogar in der deutschen Übersetzung spürt man, wie viel feiner, subtiler, genialer Yan Lianke erzählen kann, Metaphern, Bilder und Beschreibungen setzt usw…
Aber genug der negativen Gedanken, wenden wir uns stattdessen erfreulicherem zu und zwar: 10 Gründe warum dieses Buch eines der besten Bücher dieses Jahrhunderts sind und jeder von Euch nicht die Erde verlassen darf, ohne dieses Buch zu lesen.

1. Die Story
Natürlich ist es Nonsense, eine große, gewaltige, fabelhafte und vor allem auf 650 Seiten erzählte Geschichte in zwei Sätzen nacherzählen zu wollen, aber man muss sich dennoch grob vergegenwärtigen, worum es in dem Roman geht – weil auf so eine grenzgeniale Idee muss man erst einmal kommen, bitteschön! Also: Ein strebsamer und ehrgeiziger Kreisvorsteher möchte seinem agrikulturell geprägten, armen Kreis in der chinesischen Provinz Wohlstand bescheren. Nachdem sich wirtschaftlich nicht viel tut, kommt der Kreisvorsteher auf die Idee, die Region zu einem Tourismus-Magnet auszubauen. Doch dafür braucht es eine Sehenswürdigkeit, und als der Kreisvorsteher in der Zeitung liest, dass die Russen nicht wissen, was sie mit Lenins Leichnam machen sollen, kommt er auf die Idee, den Russen Lenins Leichnam abzukaufen und ihm im Gebirge seines Kreises ein Mausoleum zu errichten. Das würde die Touristen in Strömen locken – doch wie soll ein desolater Kreis den Leichnam eines internationalen Stars des Kommunismus bloß bezahlen? Ausgerechnet ein kleines Dorf namens Shouhuo soll die Lösung bringen, obwohl in diesem Dorf alle Bewohner behindert sind. Denn trotz Behinderung verfügt ein jeder über spezielle Talente, ein Einbeiniger hüpft höher als ein Zweibeiniger, eine Blinde kann hören, welcher Baumart ein fallendes Blatt angehört usw. – nun, und der Kreisvorsteher beschließt also, mit den Bewohnern dieses Dorfes einen Zirkus zu gründen, um den Ankauf von Lenins Leichnam zu finanzieren. Klingt skurril? Ist es auch. Und nebenbei herzzerreißend, spannend, unglaublich, aufregend, berührend und literarisch grandios.

2. Die Beschreibungskraft
Dieser spektakulären Geschichte steht nämlich Yan Liankes Beschreibungskraft gegenüber, die in der Weltliteratur – soweit ich das sehe – keinen Ebenbürtigen hat. Lianke zaubert Bilder, die uns verzaubern. So beschreibt er beispielsweise das Gebirge am Morgen, nachdem über Nacht mitten im Sommer Schnee gefallen war:
Unter dem dicken Schnee waren die ursprünglich deutlich voneinander abgesetzten Kornfelder nun eine einzige weiße Fläche. Die vom Schnee flach gelegten Weizenhalme schmiegten sich traurig an die Erde, und die paar Ähren, die hervorlugten, wurden meist vom Halm gerissen, durcheinandergewirbelt und unter dem Schnee begraben, als wäre ein Sturm über die Täler und Hänge hinweggefegt. Vom Berggipfel oder vom Feldrand aus konnte man noch den Weizen riechen, ganz schwach wie den Duft von Räucherwerk im Begräbniszelt, nachdem der Sarg hinausgetragen wurde.
Yan Lianke versteht es nicht nur meisterhaft, eine Welt vor unsern Augen auferstehen zu lassen, nein, er bedient sich dazu origineller, poetischer Bilder und was mich am meisten beeindruckt hat, wie jeder Vergleich, jede Metapher eine eigene Bedeutungswelt aufreißt und es doch schafft, niemals schief zu sitzen, sondern beständig neue Assoziationen in ein weites Bild einfließen zu lassen. Wie im letzten Teil, als er einen verhallenden Geruch beschreibt wie das verpuffende Räucherwerk bei einem Begräbnis – und auch wenn man in Mitteleuorpa weder Begräbniszelte und nur relativ bescheidene Räucherwerke kennt, hat man sofort ein Bild vor Augen, einen Geruch in der Nase, und dabei noch mehr Sinnlichkeit aus dem weit entfernten China dabei. Mit anderen Worten: Yan Lianke kann so bombenhaft gut beschreiben, dass man völlig vergisst, wo oder wer man ist. Man ist nur mehr Leser, der tief in dieser Geschichte gefangen ist.

3. Die politische Sprengkraft
Oh und diese Geschichte hat es in sich. Es ist ein gewaltiger Kommentar zu den ewigen Polen Kapitalismus und Kommunismus. Aber keine Sorge, keineswegs ideologisch, sondern mehr als menschlich. Am Ende weiß man vor allem eines, und zwar, dass eine der großen Todsünden, die Gier, überall auftaucht. Viele Bücher von Yan Lianke wurden verboten, dass dieses Buch ausnahmsweise erscheinen durfte und sogar mit einem chinesischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde, ist ein großes Wunder. Denn die Sprengkraft und die bitterböse Abrechnung mit dem Kurs, auf dem sich China befindet, sind unübersehbar – selbst wenn alles in einer Fabel vom behinderten Dorf verborgen ist.

4. Die sublim miterzählte Geschichte Chinas
Aber nicht nur das Jetzt, sogar das Früher wird miterzählt. Nachher versteht man China, weil das Wichtige der Vergangenheit elegant und aus dem Hemdsärmel miterzählt wird. Mich hat dieser Roman sehr an 100 Jahre Einsamkeit erinnert, wo auch ein gewaltiger Bogen geschlagen wird, der uns vor allem eines zeigt: die ewige Wandelbarkeit allen Menschlichens.

5. Alle Gefühle zwischen Lachen, Schönheit und Entsetzen
Apropos 100 Jahre Einsamkeit: dieser Vergleich ist nicht weit hergeholt. Yan Lianke ist der erste Schriftsteller, der das geschafft hat, was Marquez bei mir ausgelöst hat: fassungsloses Staunen über die Genialität dieses Werks. Und noch viel mehr. Ich glaube, ich habe beim Lesen alle Gefühle der Menschheit einmal durchlebt. Ich habe gelacht, ich habe mich gefürchtet, und ich war völlig entsetzt. Dieses Buch ist unglaublich schonungslos. Ich bin ja der Meinung, jeder Literaturliebhaber MUSS es lesen. Außer denjenigen von Euch, die nur leichte Kost für nebenbei wollen. Euch würde ich sogar abraten, denn dieser Roman lässt einen nicht mehr los.

6. Die geniale Komposition und Metatextualität
Während Marquez es ja geschafft hat, die Verschneidung von Vorausgriffen und Rückblenden auf eine neue Stufe der Kunstfertigkeit zu stellen, hat Lianke den Metatext geadelt. Ich sag’s ganz ehrlich: als ich gemerkt hab, dass dieses Buch mit Fußnoten arbeitet, wollte ich es fast nicht lesen, weil ich der Fußnote sehr skeptisch gegenüber stehe, doch da wäre ich so deppert gewesen, denn das ist Kunst! Manchmal geht Lianke in den Fußnoten auf Besonderheiten chinesischer Dialekte ein, sodass man, auch wenn man auf Deutsch liest, ein sehr geiles Gefühl für die chinesische Sprache bekommt, dann wieder erzählt er in den auf jedes Kapitel folgenden Fußnoten Vorgeschichten zu den Geschichten in den Kapiteln, mit dem Ergebnis, dass man plötzlich alles ganz anders sieht. Und das war ein irres Leseerlebnis! Dieses Reinsinken in die Geschichte und das Wissen, dass man sie in ein paar Seiten plötzlich anders sehen kann. Jede Figur wurde dadurch so tief, weil nichts so ist, wie es zuerst scheint.
Aja apropos Fußnoten, man muss/darf/soll bitte keinesfalls dorthin blättern, einfach Seite für Seite lesen, ich denke, so ist das Vergnügen und die Überraschung am Größten. Und er hat die Fußnoten zudem sehr sparsam eingesetzt, also man merkt sich das, keine Sorge.

7. Der hohe Unterhaltungswert plus literarischer Qualität
Was mich auch sehr begeistert hat, ist ein Umstand, der sich besonders in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur leider nur selten finden lässt: und zwar hat dieses Buch eine unglaublich hohe literarische Qualität, und ist dennoch zu keiner Sekunde zach, nein, es macht Spaß, es ist witzig, es ist bedrückend, es rührt zu Tränen, es lässt in Lachen ausbrechen, es fesselt, es entsetzt, und das beantwortet wahrscheinlich eh meine Frage, warum Yan Lianke den Nobelpreis nicht bekommen hat. An der literarischen Qualität liegt es nicht. Aber wahrscheinlich war er den Nobelpreisjuroren nicht verbohrt und langweilig genug.

8. Keine Sekunde Langeweile ohne Cliffhanger
Aprops nicht langweilig. 650 Seiten, Fußnoten, und doch hat der Roman ein irres Tempo, selbst wenn er über Kapitel nur von einem Vorgang erzählt. Ich weiß nicht genau, wie er es gemacht hat, die Leser so bei der Stange zu halten, aber was mich fasziniert: es war nicht durch Cliffhanger. Das ist ja der einfachste Weg, um den Leser zu fesseln, nein, Lianke ist besser. So gut, dass ich nicht analysieren kann wie. Und das wurmt mich schon ein bisschen, um ehrlich zu sein.

9. Weil man danach niederkniet und sprachlos ist
Aber auf der anderenseite: genau so ein Wurmen liebe ich. Ich bin Schriftstellerin geworden, weil mich manche Bücher so sehr fasziniert haben, dass ich dachte, da muss Magie dabei sein. Wie bei Marquez. Irving. Eugenides. Tolstoi. Dickens. Doderer. Und irgendwann wollte ich halt versuchen, auch so eine Magie zu erzeugen, deshalb hab ich zu schreiben begonnen, auch wenn ich davon sicherlich noch weit entfernt bin. Ich habe nach der letzten Seite von Lenins Küsse zu weinen begonnen. Weil ich so berührt war, wie gut dieses Buch geschrieben ist. (Ganz abseits von der Story)

10. Der Rest der Welt weiß es schon, nur wir schlafen schon wieder
Also wenn Euch das alles nicht überzeugt hat, dann bitte: Der New Yorker hat dieses Buch zum Besten Buch des Jahres 2012 gewählt. International überschlägt sich die Kritik – nur im deutschsprachigen Raum hat niemand, aber wirklich auch niemand, dieses Buch auch nur zur Kenntnis genommen. Das kann es doch nicht sein! Das ist eine Schande! Und diese Schande gilt es augenblicklich zu ändern. Daher: gebt Yan Lianke eine Chance! Ich weiß, 650 Seiten klingt sehr viel, ABER: manche dicken Bücher lesen sich viel viel schneller als manche dünnen. Das ist definitiv so ein Fall.
Als ich gemerkt habe, wie wenig Aufmerksamkeit dieses Buch bisher bekommen hat, war ich am Boden zerstört. Meiner Meinung nach müsste dieser Roman zumindest unter den 50 meist verkauften Büchern sein, aber noch ist es ja noch nicht zu spät, um dieses Buch zu verbreiten. Also: kaiserlicher Lesebefehl!!!! Ich verspreche Euch, wenn Ihr meine Bücher mögt, werdet Ihr dieses lieben, weil es noch so so so so viel besser ist. Und wenn Ihr meine Bücher nicht mögt, werdet Ihr dieses hier auch lieben, weil es noch so so so so so viel besser ist. Ich weiß, ich kann ganz gut für Bücher schwärmen. Aber ich habe noch nie so sehr für eines geschwärmt wie für dieses. Denn es ist, wie es ist: dieses Buch hat mein Leben reicher gemacht. Es war das Lektüreerlebnis der letzten Jahre. Und das war so schön, dass ich möglichst vielen Menschen das gleiche wünsche.
Also ab zu Eurem lokalen Buchhändler oder auf die Webseite irgendeines lokalen Buchhändlers (niemals vergessen! Amazon ist böse):

Yan Lianke: Lenins Küsse, Eichborn 2015.

Hier bloggt

Vea Kaiser wurde 1988 geboren und lebt in Wien. 2012 veröffentlichte sie ihren ersten Roman Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam, … weiterlesen

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